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Forschungsprogramm

 

"Textualität in der Vormoderne": Mit diesem Titel koppelt das Internationale Doktorandenkolleg einen texttheoretischen Basisbegriff mit einem zeitlich-epochalen Index, denn Ausgangshypothese ist, dass es (philologische) Textwissenschaften allein als historische geben könne. Fundierend ist dafür die Einsicht, dass die Textualität von Texten verschiedenster Art in unterschiedlichen historisch-kulturellen Zusammenhängen - und in Abhängigkeit von ihnen - hochgradig variabel ist. Um unter dieser Voraussetzung antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Schriftüberlieferungen in innovativer Weise thematisieren zu können, setzt das Vorhaben daher weder auf der Ebene des sprachlichen Materials von Rede überhaupt an (hier droht nach wie vor die Gefahr des linguistischen Isolationismus), noch auf derjenigen von Literarizität, Poetizität oder Ästhetizität (mit dem Risiko, immer wieder auf einen anachronistischen Literaturbegriff zurückzufallen), noch auch auf der Ebene der Medialität, welche zur Zeit besondere wissenschaftliche Konjunktur hat (wobei immer wieder über der Materialität von Kommunikation deren materia und deren kommunikatives Funktionieren aus dem Blick geraten kann). Angesetzt wird vielmehr auf jener sozusagen mittleren Ebene, für welche der Ausdruck Textualität zunehmend geläufig geworden ist. Er gestattet die Bezeichnung solcher Problemperspektiven, in welchen sich am differenziertesten die historisch fremden kulturellen Voraussetzung und Bedingungen vormoderner Texte rekonstruieren sowie ihre Implikationen und Folgen für deren Status und Geltung, für deren Funktionieren und Leistungen beschreiben lassen. Dies wird im folgenden in unterschiedlichen Richtungen skizziert, um den Problemrahmen aufzuspannen, dessen theoretisch reflektierte und historisch tiefenscharfe Erforschung das IDK sich zur Aufgabe macht.

Textualität in der Vormoderne muss einerseits im Rahmen einer existierenden Schriftkultur verstanden werden, die neben den schriftlichen auch den mündlichen Diskursen ihre Standards vorgibt. Dies unterscheidet sie zwar von Textualität in Kulturen sog. primärer Mündlichkeit, doch kann der Begriff des Textes nicht im Gegenzug an denjenigen von Schrift gekoppelt werden; nicht alle Texte wurden verschriftlicht (mündliche Literatur), nicht alle verschriftlichten Texte sind überliefert. Daher wird ein Begriff von Textualität zugrundegelegt, der in medialer Hinsicht (phonische oder graphische Realisierung von Diskursen) sowie bezüglich der formalsprachlichen Anforderungen an den Text offen und flexibel ist. Die ohne die notwendige Trennschärfe operierenden textlinguistischen Definitionsvorschläge für Text und Textualität sind daher für eine historische Operationalisierung nur eingeschränkt nützlich: Wohl lassen sich sprachliche Kohärenzen und Kohäsionen oder Isotopien mit ihrer jeweiligen Dynamik in der semantischen Progression und ihren textphorischen Prozessierungen auch in vormodernen Texten identifizieren. Entscheidend für den Ansatz des Doktorandenkollegs ist jedoch die systematische Anerkennung und sachliche Rekonstruktion der für Textualität generell gültigen, allerdings kulturell spezifischen (und historisch sich verändernden) Situiertheit aller mündlichen und schriftlichen Diskurse. Diese verklammern stets ganz unterschiedliche sprachliche, epistemische, handlungspraktische und situative Voraussetzungen und Umgebungen. Historisch spezifische Kontextualisierungen und Kontextnutzungen von Texten in wissens- wie handlungsbezogenen Zusammenhängen, welche interaktional und pragmatisch besonders stark auch durch nichtsprachliche semiotische Modalitäten wie durch nicht-semiotische Praxen bestimmt sind, sind der Kern des Problems von Textualität in der Vormoderne.

Hiermit hängt zusammen, dass über Produktion, Rezeption und Tradierung von Texten und Diskursen sowie über die historische Spezifik von Textualität keine sinnvollen Aussagen möglich sind ohne Berücksichtigung lebensweltlich unterschiedlich verankerter diskurstraditioneller und gattungsbezogener Vorgaben. Diese fungieren, wie Handlungs- und Verhaltensmuster generell, als abstrakte Matrizen und Modellierungen diskursiver Praxis: Sie selegieren Wirklichkeitsbereiche mit ihren funktionellen Anforderungen, sie definieren Verstehensebenen, legen sprachliche Register und Varietäten fest, etablieren Grade der Elaboriertheit, strukturieren die einschlägigen Semantiken und steuern im Blick auf die Linearisierungstypen die innere Dynamik von Texten. Vor allem sind diese Vorgaben überdies für die kommunikativ entscheidenden medialen Selektionen mitverantwortlich und determinieren sie damit Koexistenz und Zusammenwirken von sprachlich-textuellen mit nichtsprachlichen Semiosen sowie mit nicht-semiotischen Praxisdimensionen. Vormoderne Textualität ist spezifisch gekennzeichnet dadurch, dass Texte und Diskurse derartige metonymische Kontextualisierungen als Horizonte des kommunikativen Geschehens in ganz anderer Weise jeweils gegenwärtig und offen halten, als dies unter den medientechnischen und epistemischen Bedin-gungen der Moderne der Fall ist.

Aus solchen Gründen ist für jede Theorie und Geschichte des vormodernen Textes Medialität eine zentrale Kategorie. Dies um so mehr, als es in den zu berücksichtigenden Zeiträumen zu entscheidenden Verschiebungen im Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, dann auch zum Übergang zum Buchdruck kommt. Das führt freilich nicht zum Verschwinden des einen (alten) Mediums zugunsten des anderen (neuen), der Medienwandel setzt vielmehr funktionale Spezifizierungen der verschiedenen Medien und Vorgänge ihrer reziproken Abstimmung und Verkoppelung in Gang. Vormoderne Textualität ist daher stets in Abhängigkeit von verschiedenen Typen von Schriftlichkeit (zwischen ‚Verschriftung' und ‚Verschriftlichung') sowie unterschiedlichen Schriftfunktionen (Kommunikationsmedium, Repräsentation, Memoria, Magie usw.) in weithin noch halbliteraten Gesellschaften zu untersuchen. So ist zum Beispiel die Rezeption von Literatur qua Schrift in einsamer Lektüre für das archaische und klassische Zeitalter Griechenlands und dann wieder für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit noch ein Sonderfall, neben welchem mündliche Improvisation, Vortrag oder theatrale Aufführung die Regel bilden. Während die Papyrusrolle und der Pergamentcodex typischerweise für einen dem Hersteller persönlich bekannten Adressatenkreis entstehen, versammelt der Buchdruck eine diffuse, anonyme und unüberschaubare Zahl von Rezipienten schrittweise zu einem Publikum. Den jeweiligen Medienbedingungen entsprechen demgemäß höchst unterschiedliche Publikumsstrukturen und -reaktionen, die zwar unter den Bedingungen der Moderne nicht vollständig verschwinden, jedoch kulturell randständig werden. Die Untersuchung vormoderner Prozesse des Medienwandels von der Ebene der Textualität her eröffnet insofern einen Blick zum Beispiel auf historische Voraussetzungen auch gegenwärtiger Literaturgesellschaft und auf Alternativen stärker gemeinschaftsgebundener textueller und näherhin literarischer Praxen.

Wandel der Medien und der kommunikativen Praxen wirkt sich auf die Historizität vormoderner Textualität aus. Sie ist ein einschneidender Veränderungsprozess, der von vielfältig gegenläufigen Bewegungen unterschnitten wird, aufs Ganze jedoch schrittweise von einem beweglichen Textkonzept, welches die New Philology auf den Begriff der mouvance (bzw. variance) gebracht hat, zu einem Textverständnis führt, welches auf Philologisierung zielt und damit auf Textfixierung. Solche Ansätze betreffen zunächst den großen Komplex der Textkritik, denn sie verstehen die Überlieferungsgeschichte von Texten als Manifestation ihrer prinzipiellen Instabilität. Darin verhalten sie sich kritisch zu der einen verbindlichen ‚Archetyp' rekonstruierenden, also Vielheit auf Einheit reduzierenden traditionellen Textphilologie: Anstelle der Dignität eines (auktorialen) Originals oder anderweit autorisierten Normtextes soll vielmehr eine historische Authentizität überlieferungsgeschichtlicher Varianz exponiert werden. Mouvance-Konzepte zielen damit aber zugleich auf die Textpoetik selbst, denn ihr Leitbegriff perspektiviert vormoderne Literatur als ein Schreiben in Paradigmen, welche die Tradition bereitstellt; dies hat unter anderem weitreichende Konsequenzen für Autorfunktionen und Autorschaftskonzepte.

Eine historische Antwort auf die Beweglichkeit vormoderner Texte (mouvance) ist der Vorgang der schrittweisen Philologisierung des Textes. Mit ihm, so versteht sich, ist unter anderem auch das Bezugsfeld von vorhellenistischer Textualität und alexandrinischer Philologie sowie von mittelalterlichen Textpraxen und frühneuzeitlichem Humanismus und dabei dann zugleich auch das Widerspiel von Manuskriptkultur und Buchdruck aufgerufen, wobei es sich nirgends um schematisch zu denkende Oppositionen handelt. Vielmehr bedarf es eingehender - und besonders auch: theoriegeleiteter - Untersuchungen, um Interferenzen erfassbar und interpretierbar zu machen. Derartige Untersuchungen hätten insbesondere zu bedenken, dass die variance vormoderner Schrifttexte im Handeln der zeitgenössischen Kommunikationsteilnehmer in der Regel gerade nicht gegenwärtig ist; Texte, die aus philologischer oder medialer Distanz als differente erscheinen, mögen im kommunikativen Vollzug durchaus als identische wahrgenommen worden sein. Dementsprechend gibt es auch auf der Produktionsseite vielfältige Lizenzen dazu, Texte fort- und dabei umzuschreiben: Textintegrität und -identität passen in vormodernen Epochen mit den Formen der ‚lebendigen', verändernden Überlieferung oft gut zusammen.

Dies zeigt sich vor allem auch dann, wenn man jene Konzeptualisierungen von Textualität rekonstruiert, die der alexandrinischen und sodann der humanistischen Philologisierung des Textes historisch vorangehen und ihr in langen Übergangsprozessen noch entgegenarbeiten. Sie nämlich weisen historisch fremde Differenzierungsmuster im Kategoriensystem des Textes auf - etwa zwischen Sinn-, Sprach- und Laut- bzw. Schriftgestalt. So lassen sich in den Akten des Wieder-, Weiter- oder Umerzählens, beim Zitieren und Parodieren, bei der Verschriftung von Liedern usw. Koppelungen und Entkoppelungen von Kodikalität, Skripturalität, Textualität (und auch Literarizität), Entdifferenzierungen etwa von Erzählinhalt und Erzählakt oder substanzialistische Bedeutungskonzeptionen beobachten; deren epochaler Modellfall ist selbstverständlich der heilige Text, dessen Verfassung mit der lingua sacra zugleich substanziell verbunden und, in Übersetzungsprozessen, von ihr ablösbar ist. Es sind derartige Sachverhalte, die vom epistemologischen Punkt neuzeitlicher Buchdruckkultur aus sowie unter den philologischen Grundsätzen der linguistischen Isolierung von 'Textoberflächen' und der Privilegierung der Schriftgestalt der Texte gegenüber ihrer Sinngestalt schwerlich adäquat beschrieben werden könnten.

In Anbetracht der Varianz vormoderner Textpraxis und der Alterität vormoderner Textkonzepte verdient das von Genette transhistorisch systematisierte Phänomen der Paratextualität besondere Aufmerksamkeit. Untersuchungen von Schreiberzusätzen, Buchtiteln, Frontispizen, Inhaltsverzeichnissen, Scholien, stichometrischen Marginalzahlen und anderen ‚Navigationsinstrumenten', von Dedikationen, Vorworten, Glossen, Marginalien und Kommentaren etc. sind im Rahmen einer material philology von zentralem Belang. Als textuelle Schwellen- und Delimitationsstrukturen können solche Paratexte zum einen Aufschluss über das je unterliegende Textualitätskonzept geben. Zum anderen aber steuern sie als Anschlussstrukturen die Analyse des prinzipiell offenen und deshalb schwierig zu erfassenden Verhältnisses von Text und Kontext in historisch je spezifischer Weise. Paratextualität ist dabei selbstverständlich nach ihren medialen Formen differenziert und vergleichend zu untersuchen. Die komponen-tenbezogene Strukturbeschreibung ist dabei unter Berücksichtigung topographischer, temporaler und diskursiver Varietäten jeweils funktionsanalytisch zu spezifizieren, wobei gerade auch Interferenzen zu berücksichtigen sind; dies gilt in besonderer Weise für die Geschichte des Kommentars, in der sich kommentierender und kommentierter Text materiell voneinander lösen können.

Die zuletzt mit den paratextuellen Sachverhalten in den Blick gerückte zentrale Frage nach der konzeptuellen Fassung und heuristischen Operationalisierung von Text-Kontext-Relationen kann in neuer Perspektive noch einmal aufgenommen werden mit der Thematisierung von Bezügen zwischen Texten und anderen Symbolisierungssystemen. Gegenüber der herkömmlichen Modellierung als Bezugnahme oder Beeinflussung eines Vordergrunds (Text) auf bzw. durch einen Hintergrund (Kontext) sowie der darin implizierten Setzung einer direkt zugänglichen faktischen Realität liegt dem Forschungsprogramm des IDK die (unter anderem kultursemiotisch oder diskursanalytisch begründbare) Annahme zugrunde, dass die soziokulturelle Situiertheit des Textes der historischen Rekonstruktion stets als textuell vermittelte zugänglich wird. Die hieraus ableitbare Enthierarchisierung von Text und Kontext verhilft allererst zu einer die Welthaltigkeit des Textes erschließenden, begrifflich und konzeptuell tragfähigen Untersuchungsbasis. Diese öffnet die historischen Textwissenschaften nicht nur für die Erschließung vormals marginalisierter Kontexte (etwa der kanonischen literarischen Texte). Diese Untersuchungsbasis operationalisiert in ihren semiotischen Konsequenzen vielmehr auch die Relationen zwischen einerseits (sprachlichen) Texten und andererseits nicht-sprachlichen (und schon insofern kontextuellen) Symbolisierungssystemen. Sie macht nämlich diese Relation als Zeichen-Zeichen-Bezug analysierbar: als Bezug zwischen - wenngleich unterschiedlich codierten - kulturellen Äußerungen. Ein solcher Ansatz ebnet nicht mediale Differenz ein, sondern macht interferierende signifying practices über mediale - und damit zugleich auch disziplinäre - Grenzen hinweg vergleichbar. Ohne derartige Kontrastierungen und Bezugsetzungen ist vormoderne Textualität in ihren spezifischen Beschaffenheiten und Funktionen, auch in ihren Leistungen im Gesamtensemble der Kultur nicht angemes-sen beschreibbar.

Das IDK gibt keine Dissertationsthemen vor: Die Entwicklung und Konzipierung einer innovativen Forschungsarbeit gehört ja nicht weniger zu den wissenschaftliche Exzellenz bestimmenden Kriterien als ihre tatsächliche Durchführung. Wohl aber lassen sich einige mögliche Vorstrukturierungen des systematischen Problemraums als Beispiele nennen:

  • Mehrsprachigkeit und das Phänomen des Übersetzens in unterschiedlichen literarischen und gelehrten Diskursen;
  • Latein oder Volkssprache: Sprachen, Diskurstraditionen und Textualitätsmuster;
  • die ‚Identität' des Textes im historischen Wandel;
  • mouvance und Autorschaft;
  • Probleme der Para- und Intertextualität;
  • allgemeine Textualitätskriterien in der Vormoderne;
  • Probleme der Textualität in intermedialer Perspektive;
  • Textualität und pragmatische Situiertheit;
  • Textualität und Performativität;
  • Grundfragen der Textualität von Erzähltexten (narratologische Organisationsmuster, Kompletion und Kohärenz von Narrationen etc.);
  • Rekonstruktion historischer Diskurse über Textualität (in der Reflexion von Übersetzungspraxen, in der Geschichte der rhetorischen oder theologischen Theorie, in den metaphorischen Selbstbeschreibungen poetischer Texte usw.);
  • Gattungs- und Diskursdispositive;
  • Theorie und Geschichte von Text-Kontext-Relationen;
  • Papyrologie (Rotulus) - Kodikologie (Codex);
  • Gebrauchstexte, kollektive Autorschaft und der Markt für Texte;
  • Kodikologie und Buchgeschichte im Hinblick auf pluralisierungs- oder autoritätssichernde Leistungen von Kodex und Druckwerk;
  • Frühneuzeitliches Drama im Spannungsfeld von Bühne und Buchdruck.
verantwortlich für den Seiteninhalt: Thomas Borgstedt
Die Kollegiaten des IDK und deren Promotionsprojekte. [mehr]
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